Monatsimpuls Februar
Von Sr. M. Katharina Mock, Generaloberin der Vincentinerinnen

Sehr geehrte, liebe Leserinnen und Leser,
die Zeit eilt dahin und es beginnt der zweite Monat im Jahr 2022. Ich sende Ihnen herzliche Grüße an Ihre Arbeitsplätze.
In den letzten Wochen hat die Veröffentlichung des Gutachtens über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising und der Umgang der Bistumsverantwortlichen damit, die Öffentlichkeit erschüttert.
Aus diesem Grund möchte ich Ihnen in Rahmen meines monatlichen Impulses den Wortlaut einer Predigt von Domvikar Hans Jürgen Rade vorstellen, die er in einer Hl. Messe in der
Kapelle des St. Vincenz – Krankenhauses am Samstag, dem 22. Januar 2022 gehalten hat.
„Du gehörst doch auch zu ihnen“, sagte die Magd im Palast des Hohenpriesters nach der Gefangennahme Jesu zu Petrus. Und er antwortet: „Nein, ich nicht.“ Die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising am Donnerstag haben in mir erneut ein Gefühl der Scham geweckt, als schauten alle und sagten: „Der gehört auch dazu“ und ich möchte rufen: „Nein, ich nicht.“ Angesichts des Ausmaßes des Leids und der Vertuschung, des Nicht-Wahrhaben-Wollen, welches Leid den Missbrauchten angetan worden ist, und angesichts der ausdrücklichen Fürsorge für die Täter kann ich mich nur noch schämen, zu solch einer Organisation zu gehören, die Missbrauch nicht nur nicht verhindert, sondern durch Wegschauen, Schweigen, Untätigkeit und Versetzung geradezu ermöglicht hat. Ich vermute, dass ich mit der Scham nicht allein bin und viele Getreue sie teilen und darunter leiden. Was mich zudem erschreckt und betroffen macht, ist das Ausmaß der Verbrechen und Verfehlungen, die erst jetzt, elf Jahre nachdem die Welle ins Rollen gebracht wurde, in München ans Tageslicht kommen. Versprochene rückhaltlose Aufklärung sieht doch wohl anders aus, auch wenn alles seine Zeit braucht. In der gegenwärtigen Situation, in der ich mich schäme für das, was in unserer Kirche geschehen und unterlassen worden ist, bewahrheitet sich das Wort des Apostels Paulus: Wir sind alle Glieder an einem Leib. Leidet ein Glied, leiden alle Glieder mit, ist ein Glied betroffen, sind alle betroffen. Das gilt, wie wir jetzt sehen, auch über deutliche zeitliche Abstände hinweg. Missbrauch ist nie nur ein punktuelles Geschehen zwischen zwei Menschen, sondern trifft immer auch das Umfeld, ja die ganze Kirche. Es war naiv, kurzsichtig und unverantwortlich von den Verantwortlichen zu meinen, die Verbrechen könnten auf Dauer geheim und im Verborgenen bleiben, weil sie im Geheimen geschehen und nur sehr wenigen bekannt sind. Jesus sagte einmal: „Was man euch im Geheimen zuflüstert, das verkündet von den Dächern.“ Vor Gott liegt eh alles offen und bloß. Beschämend ist das Versagen der Bischöfe. Das deutsche Wort „Bischof“ kommt vom griechischen Wort „episcopos“ und heißt Aufseher. Sie sind bestellt zum Aufseher, zum Hirten für die Herde. Dazu gehört doch auch, nicht nur auf die Wölfe im Schafspelz zu achten, die von außen die Herde angreifen, sondern auch auf die Hirten zu achten, die zu Wölfen mutiert sind, und im Innern ihr Unwesen und Unheil treiben. Die Bischöfe stehen nun einmal für die Kirche. Das hat Kardinal Marx vor einigen Monaten betont und deswegen in logischer Konsequenz Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten, um als erster der deutschen Bischöfe aus eigenem Antrieb die Verantwortung für Fehlversagen, Fehlentscheidungen und Nicht-Hinblicken zu übernehmen. Angesichts des Münchener Missbrauchsgutachtens wird sein Rücktrittsangebot verständlich. Er wollte das Signal setzen, dass er verstanden hat, wo er Schuld auf sich geladen hat. Leider hat Papst Franziskus das starke Zeichen nicht angenommen. Schmerzlich und beschämend ist zudem, dass Papst emeritus Benedikt sich so schwertut, seinen Anteil an den schweren Versäumnissen einzuräumen. Er müsste doch wissen, dass seine persönliche Verantwortung nicht von seinem Amt zu trennen ist, seine Zeit als Erzbischof von München nicht von der als Papst. Auch an Kardinal Woelki lässt sich ablesen, dass er immer noch nicht verstanden hat, dass durch sein Festhalten am Amt und sein Sträuben das Vertrauen rapide schmilzt und das nicht nur im Erzbistum Köln, sondern in der gesamten deutschen Kirche, denn ein Bischof steht nie nur für seine Diözese.
Was mich angesichts der erschreckenden und verheerenden Lage tröstet, ist einzig der Gedanke, um noch ein Bild Jesu aufzugreifen, dass der Herr des Weinbergs weiterhin dabei ist, den Weinberg zu säubern, die verdorrten Reben zu sammeln und sie ins Feuer zu werfen. Zugleich ist es für mich ein Zeichen dafür, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt und die Verantwortlichen nicht ungeschoren davonkommen lässt, seien es Priester, Diakone, Bischöfe, Kardinäle, selbst Päpste oder auch Laien. Das Gericht Gottes beginnt nicht immer erst in unserer Todesstunde.
Es wird höchste Zeit, ja es ist überfällig, dass wir uns als Kirche neu an der Sendung Jesu orientieren, die im heutigen Evangelium programmatisch gebündelt ist: seine Sendung gilt den Armen, den Gefangenen, den Blinden und Zerschlagenen, kurz allen Opfern von Missbrauch und Ungerechtigkeit. Ihnen muss unser Fokus gelten, wenn wir Jesu Auftrag und seiner Botschaft gerecht werden wollen. Als Glieder seines Leibes sind wir dazu berufen, aufeinander zu achten und für einander zu sorgen. Dazu gehört derzeit entscheidend, den Missbrauchsopfern Gerechtigkeit zu verschaffen. Nur so kann Vertrauen zurückgewonnen werden; nur so kann Heilung beginnen. Doch bis dahin ist es wohl noch ein weiter Weg.
Die Worte der Predigt sind mir aus der Seele gesprochen und zu Herzen gegangen.
Die Kirche ist dringend reformbedürftig. In der Geschichte der Kirche sind Reformen jedoch selten vom Kopf her angestoßen worden, sondern immer von der Basis, durch Menschen wie Franz von Assisi, Katharina von Siena, Martin Luther, Vincenz von Paul, Karl Borromäus…
Sehr geehrte, liebe Mitarbeiterinnen, jeder getaufte Mensch ist in der Taufe zu einem Glied am mystischen Leib Christi geworden. Das haben diese Menschen verstanden und haben versucht, das ins Leben zu bringen, was sie von der Botschaft Jesu verstanden haben. Sie alle wussten sich wie Jesus gesandt Arme nicht allein zu lassen, Gefangene zu befreien, Blinden die Augen zu öffnen und jedwedes Leben zu schützen. Diese Sendung haben alle empfangen, die in der Taufe in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen wurden.
Es gibt viele Menschen, die aufgrund der vielen Missbrauchsskandale die Kirche verlassen haben und noch verlassen werden. Das ist der einfachste Weg, um mit diesem Morast nichts mehr zu tun haben zu müssen. Weitaus schwieriger ist es, durch einen authentisch gelebten Glauben an die Liebe Gottes, die durch Skandale verunstaltete und verunglimpfte Botschaft des Evangeliums neu mit Geist und Leben zu füllen. Die Botschaft Jesu lautet auch heute noch: Gott ist die Liebe. Deshalb bleibe ich Teil der Kirche.
Ihre Schwester M. Katharina
- 0 Kommentare
Mein Kommentar